Es besteht ein Bedarf für Medien, die sich redaktionel an Schleswig verpflicten. Denn Schleswig ist nicht in dem Bewusstsein der Menschen Mehr.
Auf dem rot gebeizten Küchentisch liegt die Zeitung. Der Stuhl auf dem ich sitze, knarrt auf vertraute Weise, es duftet nach Kaffee und vom Fenster geht der Blick über die erntereifen Felder von Vosnæsgård, hinter denen sich die Mühle von Segalt erhebt.
Von hier, vom Kernland der Århus Stiftstidende, ist es weit bis nach Schleswig. Meine Eltern abonnieren sie schon seit ewigen Zeiten, überlegen aber zur Zeit, ob sie das Abo kündigen sollen, da so viel Merkwürdiges in der Zeitung steht. Sport und Sachen aus Kopenhagen und so was. So verhält es sich auch heute, während ich die Stiftstidende wie immer langsam durchblättere.
„Jütländer kämpfen über Kattegat-Brücke” lautet die Titelschlagzeile in großen Buchstaben. Den weitaus meisten Teil der Seite füllt ein Foto von Jørgen Mads Clausen, dem Vorstandsvorsitzenden der Danfoss AG. In der Nähe von Fynshav, an der Ostküste von Alsen, steht er in einem weißen, kurzärmeligen Hemd unter blauem Himmel und schaut durch sein mitgebrachtes Fernglas nicht nur auf die Wellen der Ostsee, sondern auch in die Zukunft.
Und in der Zukunft sieht er eine Brücke von Bøjden auf Fünen bis nach Fynshav, berichtet die Stiftstidende. Brücken von Alsen nach Fünen landen nicht per se auf den Titelseiten in Århus. Aber es ist eine Schlagzeile wert, wenn Clausens Brücke angeblich die Verbindung über den Kattegat ersetzen soll, also eine mögliche Brückenverbindung von Seeland über die Insel Samsø nach Ostjütland.
Weiter hinten in der Stiftstidende wird die Story fortgeführt: auf Seite 8 und 9 kämpfen Ost- und Südjütländer darum, wo der größte Bedarf für eine Brücke besteht. Lars Larsen vom Dänischen Bettenlager gegen Jørgen Mads Clausen von Danfoss. Ich lege die Zeitung beiseite.
Die Geschichte stammt von Sonntag, dem 8. August. Die Stiftstidende teilte sie dann mit der Sonntagsausgabe von Berlingske Tidende in Kopenhagen, die dafür auch die Titelseite hergab. Der Winkel in Berlingske war derselbe wie in der Stiftstidende: Kampf.
„Der Kaufmann vom Bettenlager und der König von Als kämpfen um Prestigebrücke”, lautete eine Überschrift.
Die Leser von Berlingske haben es im Geiste wohl vor sich gesehen: jütländische Bauernknechte mit gewetzten Sensen, bereit, wie in alten Zeiten für den schnellen Weg in die Hauptstadt zu kämpfen.
Schleswig als redationelle Kernaufgabe
Plötzlich wird mir klar, dass alles, was sich südlich der Grenze befindet, in der medialen Behandlung dieser Geschichte durch völlige Abwesenheit glänzt, sowohl was den Fragewinkel, den Problemhorizont als auch die Argumentation angeht. Die Medien decken diese Geschichte aus einem rein dänischen Winkel ab.
Ich finde, das könnte man zum Vorteil aller ganz anders machen, sofern man Schleswig als Ganzes wieder auf unserer mentalen Landkarte verankern möchte. Ich denke auch, dass es ein Gewinn für Schleswig wäre, wenn es Medien gäbe, die Schleswig als Ganzes in das Zentrum ihrer redaktionellen Arbeit rücken würden.
Im Nachfolgenden benutze ich den Begriff Schleswig. Ich könnte auch vom Grenzland sprechen oder von Sønderjylland und es damit in seiner alten, historischen Bedeutung sehen. Was zählt, ist, dass ich über das Gebiet in etwa zwischen der Eider und der Königsau schreibe.
Und, lassen Sie mich auch das ganz klar sagen: Für mich ist nichts falsch daran, dass die Journalisten von Berlingske den Kampf in den Fokus rücken, wenn es eben ein Kampf ist. Es ist auch nicht verkehrt, wenn ihr Problemhorizont Schleswig ausblendet oder dass sie aus einem rein dänischen Blickwinkel berichten. Das ist ganz logisch. Sie beschäftigen sich mit Dänemark und mit dänischer Verkehrspolitik für Leser in Dänemark. Schleswig als Ganzes spielt in ihrem redaktionellen Spektrum keine Rolle.
Außerdem mache ich mich hier auch nicht zu einem Fürsprecher für eine südlich oder nördlich verlaufende Brücke. Dazu habe ich keine fertige Meinung. Für mich ist die Geschichte über die Brücke nur ein Beispiel. Sie ist ein Beispiel für eine Geschichte, die man auf eine ganz andere Art hätte erzählen können, in der Schleswig als Ganzes eine Rolle spielt.
Ich denke hierbei an frühere Artikel in GRÆNSEN. Carl Holst, der Vorsitzende des Regionsrats von Süddänemark, und Jørgen Mads Clausen haben eine ähnliche Gesamtperspektive. Carl Holst will eine zusammenhängende Wachstumsregion von der Königsau bis zur Eider schaffen, in der die gemeinsame Existenz ein Schlüsselbegriff ist, erzählt er Erik Lindsø (in GRÆNSEN Nr. 1, 2010). Über die Region muss berichtet werden, meint er, oder wie er es formuliert, sie muss „deutlich gemacht“ und „lanciert“ werden. Entsprechend argumentiert Jørgen Mads Clausen dafür, dass die Grenzregion zusammenwachsen müsse und eine Fernsehstation „Nachrichten und Themensendungen verbreiten“ könne, „die die Region zusammenführen könnten“ (in GRÆNSEN Nr. 5, 2009). Die Medien sollten die Unwissenheit beseitigen und uns einander über die Grenze hinweg bekannt machen, meint Clausen.
In Århus ist Schleswig gar nichts
„Unglaublich,“ denke ich zuhause am rot gebeizten Küchentisch. Die Brücke zwischen Alsen und Fünen würde einer uralten Verkehrsader zwischen Schleswig und der Hauptstadt neues Leben einhauchen und das wird noch nicht einmal erwähnt.
Die Geschichte wäre eine Supervorlage, wenn man so denkt wie Jørgen Mads Clausen und Carl Holst in den zitierten Ausgaben von GRÆNSEN. Die habe ich gerade noch einmal gelesen und jetzt liegen sie mit der zusammengefalteten Stiftstidende auf deren gewohnten Ablage.
Eine Woche ist vergangen und drüben in Vosnæs wird geerntet.
Ich schalte das Notebook ein, hole mir einen Schreibblock und entwerfe eine fiktive Überschrift: „Schleswig kämpft für die Brücke“ und darunter die Unterzeile: „Wir wollen kein Randgebiet mehr sein, sagen die schleswigschen Bürgermeister über eine zukünftige Brücke“.
Ich stelle mir vor, dass es für eine Zeitung einfach sein müsste, am Telefon die Meinung der Bürgermeister der Städte Flensburg, Schleswig und Husum über die Brücke einzuholen.
Ich fange an in den Internet-Ausgaben diverser Zeitungen zu surfen. Ob irgendjemand wohl den gleichen Gedanken gehabt hat? Schreiben sie alle ohne Ausnahme über den Kampf der Jütländer? Vielleicht gibt es ja wenigstens einen einzigen Journalisten, dessen Gedanken über die Grenze hinaus reichen. Ich finde keinen. Stattdessen öffne ich die Website der Stiftstidende, in der der „Kampf“ weitergeht: „Es gibt keine Argumente dafür, dass eine Brücke zwischen Alsen und Fünen irgendetwas Verbindendes haben könnte“, schreibt ihr Chefredakteur Flemming Hvidtfeldt in einem Leitartikel. „Auf jeden Fall nicht in Dänemark.“
In Århus liegt die mentale Grenze bombenfest, denke ich für mich, denn würde man nur einen kleinen Teil von Deutschland miteinbeziehen, müssten sich eigentlich Argumente für das Verbindende finden lassen. Mir fallen die Kampfhähne der letzten Woche ein: „Bei der Verbindung über das Kattegat handelt es sich ja um einen viel größeren und wichtigeren Kampf, der enorme Bedeutung hat“, sagte Bettenlager-Larsen über den Unterschied zur Alsen-Verbindung. Und weiter:
„Unser Komitee repräsentiert ein gigantisches Gebiet.“
Der Journalist Henrik Havbæk Madsen blies in dasselbe Horn. Er verfasste eine Nachrichtenanalyse und seine Art, die Sache zu behandeln, war faktisch ein wenig herablassend. Es wäre höchstens eine Art Ablass an das periphere Dänemark, Stimmenfängerei, würde man für eine Brücke nach Alsen eintreten. Eine Brücke nach Alsen, das wäre wie die beiden Autobahnen im „sehr dünn bevölkerten“ Vendsyssel im nördlichen Jütland. Die Autobahnen waren in den 1980er Jahren der Preis des sozialdemokratischen Folketing-Abgeordneten Risgaard-Knudsen aus Frederikshavn für seine Zustimmung zur Brücke über den großen Belt. Der Volksmund nennt die zwei Autobahnen daher auch „Risgaard“ und „Knudsen“. Die Brücke nach Alsen könne man daher entsprechend „Jørgen Mads Clausens Brücke“ nennen, so die Meinung von Havbæk Madsen.
Faktisch hat Jørgen Mads Clausen selbst dazu beigetragen, dass man sich so über ihn und das Projekt lustig macht. Er hat sich nämlich selbst kleingeredet und sich der für die Randgebiete typischen Rhetorik bedient: „Das Problem für uns im peripheren Dänemark ist, dass die Entwicklung in den großen Städten geschieht”, sagte er zur Stiftstidende, und es sei „wichtig, mehr wirtschaftliche Entwicklung in Südjütland, besonders in der Kommune Sønderborg zu schaffen.”
Und auf die Weise passt alles zusammen. Es ist das gigantische Gebiet gegen das dünn bevölkerte, irgend etwas gegen gar nichts.
Aber das Rechenexempel könnte man auch anders führen.
Dankbare Zahlen
In der Region Mitteljütland, die ein Gebiet von 13.142 km² umfasst, wohnen ca. 1,2 Mio. Menschen. Das sind ja deutlich mehr Menschen, als die etwa 250.000, die auf 3.938 km² im früheren Kreis Sønderjylland leben – von der Kommune Sønderborg ganz zu schweigen.
Zählt man aber Südschleswig mit, kommen zusätzlich rund 420.000 Menschen in einem Gebiet von 4.176 km² dazu. Vergleicht man das ganze Schleswig mit der kompletten Region Mitteljütland, stehen ca. 670.000 Schleswigern also über 1,2 Mio. Mitteljütländer gegenüber. Allerdings hat jeder Mitteljütländer beinahe doppelt so viel Platz zum leben.
In ganz Schleswig-Holstein leben 2,8 Mio. Menschen. Sie bewohnen ein Gebiet, das in etwa so groß ist wie die Region Mitteljütland mit ihren 1,2 Mio. Einwohnern. Rechnet man den alten Landkreis Sønderjylland dazu, kommt man auf rund 3 Mio. Menschen in den alten Herzogtümern.
Summa summarum: es ist ein Leichtes, die ganze Rhetorik auf den Kopf zu stellen. Die alten Herzogtümer sind Goliath, die mit einer Autobahn über Alsen mit Kopenhagen verbunden würden, während die Region Mitteljütland David ist, ein Randgebiet mit nur 1,2 Mio. Einwohnern.
Und Hamburg kommt in dem Rechenexempel noch nicht einmal vor.
Hier ist es an der Zeit, dass ich ein weiteres Mal meine Pointe unterstreiche, da mir völlig klar ist, dass sich gegen diese Zahlenspiele und Vergleiche sehr viel einwänden lässt. Ich möchte keinesfalls verteidigen, dass die oben dargestellten Rechenbeispiele besser sind, als die der Leute in Århus. Ich möchte damit nur auf den eigentümlichen Umstand verweisen, dass es keine Medien gibt, die Schleswig als Ganzes betrachten und die Geschichte unter diesem Blickwinkel darstellen.
Deswegen schließe ich mich den Zeitungsmeinungen à la Berlingske nicht an. Die Geschichte lässt sich ohne Weiteres auf eine ganz andere Weise erzählen, wenn man ganz Schleswig als Problemhorizont mit einbezieht: „Die Schleswiger wollen nicht länger Randbewohner sein“, schreibe ich nun in meinen Block. Und dazu die Unterzeile:
„Parteien und Bevölkerung sind sich einig. Der Weg zu Wachstum in Schleswig führt über Clausens Brücke.“
Wir könnten heute alle Schleswiger sein
Lassen Sie mich über ein weiteres Beispiel von einer Geschichte berichten, die man auch „auf schleswigsch” erzählen könnte. Davon gibt es übrigens viele.
Anfang August wurde Tom Buk-Swientys neues Buch angekündigt. „Dommedag Als“ – „Schicksalstag auf Alsen“ – ist der Titel (s. die Rezension in dieser Ausgabe von GRÆNSEN). In der Vorankündigung hieß es, dass man in dem Buch würde lesen können, dass König Christian IX. 1864 die Möglichkeiten für eine Eintritt des dänischen Gesamtstaats in den Deutschen Bund untersuchte. Christian IX. tat dies unter größter Geheimhaltung und erst nach den Niederlagen von Düppel und Alsen, die Dänemark in seiner staatlichen Existenz bedrohten. „Dänemarks Einverleibung in Deutschland“ wurde daraus in den heutigen dänischen Medien. Die Geschichte über den „Landesverräter“ Christian IX. nahm in den Medien sehr viel Raum ein.
Hatte sich der Verlag Gyldendal damit eine kluge Verkaufsstrategie für das Buch zurechtgelegt, hatte er richtig gehandelt. Natürlich provozierte es die heutigen Dänen und Journalisten, dass Dänemark in seiner Gänze keine Selbstverständlichkeit ist. Hier nur einige der Überschriften und Schlagzeilen:
„Christian IX. bot den Deutschen Dänemark an” (Politiken).
„Als Christian IX. Dänemark den Deutschen geben wollte“ (Berlingske Tidende).
„Dänemark als deutsches Bundesland“ (JyllandsPosten).
„Wir könnten heute alle Deutsche sein“ (Politiken).
Wie hätten aber die Überschriften in einem Medium ausgesehen, das Schleswig als Horizont hat?
Man hätte z.B. den Bürgern auf den Fußgängerzonen in Schleswig das Mikrofon unter die Nase halten können und fragen können:
„Christian IX. wollte seinerzeit Schleswig nicht in zwei Hälften teilen, was denken Sie darüber?“
Und was würde wohl geschehen, hätte man Jørgen Mads Clausen oder Carl Holst diese Frage gestellt? Das hätte vielleicht in solchen Überschriften resultiert:
„Christian IX. wollte ein ungeteiltes Schleswig“.
„War Christian IX. Multikulti?“
„Wir könnten heute alle Schleswiger sein“.
„Christian IX. wollte das dänische Randgebiet bis nach Hamburg ausweiten”.
Den richtigen Fokus wählen
Mittlerweile ist es hier am Küchentisch September geworden und in Vosnæs ist die Ernte eingefahren. Wenn ich das nächste Mal hier sitze, werden noch mehr Geschichten geschrieben worden sein und Schleswig wird man darin weder erwähnt noch beachtet haben. Und es wird immer noch weit sein von Århus nach Schleswig.
Ich könnte mir denken, dass der nächste entsprechende Artikel in der Stiftstidende von Sønderborg und Århus handelt, die ja um den Titel als Europäische Kulturhauptstadt 2017 konkurrieren. Vielleicht kommt die Stiftstidende mit einer Überschrift à la „Kampf der Jütländer um den Titel als Europäische Kulturhauptstadt“ [schon passiert, red]. Und hinten auf Seite 8 und 9 werden Süd- und Ostjütländer darum kämpfen, wer am meisten zu bieten hat. Und vielleicht wird es im Leitartikel heißen, dass eine so kleine Stadt wie Sønderborg es eigentlich nicht verdient hätte, den Kampf für sich zu entscheiden.
Es wird wohl auch einige Südjütländer geben, die sich nicht zu schade sind, sich als unberücksichtigte und übersehene Randgebiets-Dänen darzustellen, denen die größeren Städte etwas schuldig sind. Oder wird es wenigstens einen einzigen Journalisten geben, dem es auffällt, dass Sønderborg faktisch versucht, sich als Kandidat von ganz Schleswig zu präsentieren?
Ich werde in meinem Gedankenspiel unterbrochen, während ich für einen Moment meinen Blick auf eine Stelle weit hinter den Feldern und der Mühle von Segalt gerichtet hatte. Es kommt mir ganz sicher so vor, als hätten sich dabei die Mühlenflügel um eine halbe Drehung bewegt. „Verflixt“, denke ich für mich, „es geht ja darum, den Fokus eingestellt zu haben, während die Dinge geschehen.“
Dänische originalausgabe: Fortæl Slesvig!